Teil 2
Hunger und Not
Dass ihr Ehemann und ihre Geschwister von dem Sturm der Repressalien erfasst wurden, hat Agatha schwer mitgenommen. Aufgrund ihrer ausgeprägten Gefühle hat sie lange Zeit darunter leiden müssen. Selbst wenn die Trauer um ihre Brüder allmählich nachließ, blieb die ständige Sorge um ihren Ehemann, solange noch Hoffnung auf seine Rückkehr zu ihr und ihrer gemeinsamen Tochter Agatha, das Einzige, das ihr aus ihrer Ehe geblieben war, bestand. Und ihre Tochter lag ihr sehr am Herzen. Bereits vom ersten Augenblick an, seitdem Agatha sie erblickt hatte, wurde sie von großen mütterlichen Gefühlen zu ihr überflutet.
Doch ihre Tochter war nicht die Einzige, der sich Agatha mit ihrer mütterlichen Liebe ebenso wie Zuwendung widmete. Denn auch Elisabeths Sohn Johann war nach der Festnahme seiner Mutter allein zurückgeblieben. Da Agatha, eine gutherzige Frau mit viel Mitgefühl für die anderen, so beschaffen war, dass sie in erster Linie sich selbst in der Pflicht sah, anderen - das betraf insbesondere ihre Familienangehörige - bei Bedarf zu helfen, nahm sie Elisabeths Sohn, den sie seit seiner Geburt in ihr Herz geschlossen hatte, für die Dauer der Abwesenheit seiner Mutter in ihre Obhut und sorgte für zwei Kinder gleichermaßen.
Obgleich Agatha solch eine herzensgute Frau war, ließ das Unglück, wie das häufig der Fall ist, von ihr nicht ab. Der Seelenschmerz infolge ihrer Verluste in den vergangenen Monaten wirkte noch nach, als sie einen erneuten Verlust erleiden musste. Dieses Mal traf es ihre Tochter. Sie erkrankte an einer zur damaligen Zeit in Chortiza wütenden Krankheiten, die viele Betroffene, einschließend Kinder, aufgrund unzulänglicher medizinischer Versorgung nicht überlebt hatten. "Ich lasse das Kind nicht sterben", weinte Agatha. Doch sie stand der höheren Gewalt machtlos gegenüber.
Wenngleich sie vom tiefen Kummer übermannt war, konnte sie sich dennoch nicht allzu lange der Trauer um ihre Tochter hingeben, da auch Elisabeths Sohn auf ihre Zuwendung angewiesen war. Seitdem sie für ihn sorgte, stellte sie ihn stets mit ihrer eigenen Tochter gleich. Denn die unterschiedliche soziale Behandlung widersprach ihrem Gerechtigkeitssinn. So erzog sie ihn wie ihren eigenen Sohn und umgab ihn mit all der mütterlichen Liebe und Fürsorge, die seine Mutter ihm für die Dauer ihrer Abwesenheit und Agatha ihrer Tochter nicht mehr geben konnte.
Da Agatha nicht nur eine liebevolle Frau war, sondern zudem eine hohe Arbeitsmoral ebenso wie hohe soziale Verantwortung hatte, die ihr seit ihrer Kindheit als Pflicht auferlegt wurden, sah sie sich in der Pflicht, die grundlegenden materiellen Bedürfnisse der in ihrem Haus lebenden Personen nach Maßgabe ihrer Kräfte sicherzustellen. So ging sie als alleinige Versorgerin in der Folgezeit nicht nur schwerer Arbeit in der kollektiven Wirtschaft "Richtiger Weg" nach, sondern leistete - aufgrund der geringen Entlohnung, die infolge des Zweiten Weltkrieges mitunter gänzlich ausfiel - Mehrarbeit.
In den vergangenen Jahren hatte sie dem Buchhalter in Chortiza assistiert. "Solch eine Ordnung habe ich in der Buchhaltung noch nie gehabt", bewertete er ihre Arbeitsleistung. Im Anschluss daran - nach der Geburt ihrer Tochter - wurde ihr die Zuständigkeit für die örtliche Kinderkrippe übertragen. Dieser Tätigkeit konnte sie allein aufgrund der Umstellung der Amts- und Schulsprache von Deutsch auf Russisch unter anderem in den deutschen Gebieten in West - Sibirien im Jahre 1938 nicht mehr nachgehen.
Diese Umstellung, die mit der Auflösung des deutschen Rayons in West - Sibirien einherging, war nicht der einzige Grund, weshalb Agatha gemeinsam mit anderen in der Siedlung verbliebenen Frauen zur Schwerstarbeit in der kollektiven Wirtschaft herangezogen wurde. Das lag auch daran, dass aufgrund der Repressalien in den Jahren 1930 bis 1938 und angesichts der Einberufung der deutschen Minderheit der Sowjetunion in die Arbeitskolonnen (Trudarmee) während des Zweiten Weltkrieges ein erheblicher Arbeitsausfall an starken Arbeitskräften entstand.
Die deutschstämmigen Männer im wehrfähigen Alter wurden, seitdem die deutschen Truppen im Rahmen des Zweiten Weltkrieges im Juni 1941 die Sowjetunion ungeachtet des Nichtangriffspakts angegriffen hatten, vorerst zum Kriegsdienst verpflichtet und bereits im Oktober 1941 von der Front abgezogen und gemeinsam mit den deutschstämmigen Frauen im vorgegebenen Alter zum Ersatzdienst in den Arbeitskolonnen im Hinterland einberufen, in denen sie Schwerstarbeit im Baugewerbe, in den Bergwerken, in den Fabriken und beim Holzfällen nachgingen.
Sämtliche Familien in Chortiza waren allerdings hinsichtlich der Lebensmittelversorgung schlechter gestellt als die in die Arbeitskolonnen Einbezogenen. Die Arbeiter in der Trudarmee erhielten zumindest für die Erfüllung der Tagesnorm die vorgeschriebene Tagesration an Brot, indessen blieb den Siedlern in Chortiza aufgrund der geringen Erträge während der Kriegsjahre, nach Abzug der an den Staat abzuliefernden Abgaben, Steuern und Kredite, kaum bis gar nichts mehr übrig, mit der Folge, dass Erwachsene und Kinder am Hungerstod starben.
Ungeachtet der Hungersnot nahm Agatha in der Folgezeit zwei Waisenkinder in ihre Obhut, Elsa im Alter von fünf und Maria im Alter von vier Jahren, die Töchter ihrer Schwester Maria. Maria, die nach dem Tod ihres Ehemannes allein für die Kinder gesorgt hatte, war aufgrund ungünstiger Umstände ums Leben gekommen. Angesichts dessen erachtete Agatha, eine seelengute Frau mit einem großen Herz für Kinder, es als ihre Pflicht, die Mädchen bei sich aufzunehmen. "Wir wurden nicht allein gelassen, die gütige Tante hat sich uns angenommen", führte Maria aus. "Sie hat nicht nur für uns gesorgt", betonte Johann, "sie hat uns auch noch liebgehabt."
Die Versorgung aller Kinder war kein leichtes Unterfangen. Die Erfüllung ihrer materiellen Bedürfnisse erforderte nicht nur Mehrarbeit, sondern höchst wirtschaftliche Haushaltsführung. Daran fehlte es Agatha nicht. Im Gegenteil, sie wirtschaftete stets mit Klugheit und teilte die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen im Rahmen einer langfristigen Planung rationell ein. Die Bekleidung und Spielsachen für die Kinder fertigte Agatha, eine äußerst arbeitsame Frau, vorwiegend selbst in Handarbeit an. Das alles half ihr erheblich, die Kinder durch die schweren Zeiten zu bringen. "Sie hat es sehr schwer gehabt und freute sich jedes Mal, wenn sie etwas für uns tun konnte", erinnerte sich Maria.
Das Wohl der Kinder lag Agatha sehr am Herzen. Daher unterzog sie die Kinder nicht nur einer vortrefflichen Erziehung - ausgerichtet an den Grundsätzen wie Anstand und Aufrichtigkeit, soziale Verantwortung und Pflichtbewusstsein ebenso wie Hilfsbereitschaft, sondern förderte zudem ihre Schulleistungen, obgleich sie den Kindern diesbezüglich nur beschränkt zur Verfügung stehen konnte, da sie ihre Schulbildung vor dem Jahr 1938 und somit in deutscher Sprache absolviert hatte. Dadurch erhoffte sie sich, den Kindern eine solide Grundlage für soziales Ansehen zu vermitteln und ihnen zufriedenstellende Lebensumstände zu ermöglichen.
Nachdem die Kinder die örtliche Grundschule absolviert hatten, stellte Agatha, die großen Wert auf die Bildung legte, ihre Fortsetzung der Schulbildung in einer der umliegenden Siedlungen sicher und bemühte sich außerdem um eine Unterkunft am Standort der Schule für sie, sodass die Kinder die lange Strecke zwischen den zwei Siedlungen, insbesondere im kalten Winter, nicht zurückzulegen brauchten. Obgleich viele Eltern ihre Kinder zum Zweck der Arbeitsaufnahme von der Schule abmeldeten, nahm Agatha für das Wohl der Kinder bereitwillig zusätzliche Bemühungen und Ausgaben auf sich.
Agatha war in ihrer Güte schwerlich zu übertreffen. In ihrem Leben vollbrachte sie viel Gutes. Sie erkannte die Hilfsbedürftigkeit ihrer Mitmenschen und leistete Hilfe, ohne eine ausdrückliche Bitte darum erhalten zu haben. Das betraf insbesondere ihre Familienangehörigen, die sich in ihrer Gegenwart wohl und geborgen fühlten, aber auch Personen außerhalb ihrer Familie. Sie tat es nicht nur aufgrund der ihr auferlegten sozialen Verantwortung, sondern auch deswegen, weil sie aufgrund ihrer hohen Einfühlsamkeit Freude daran hatte.
Nach Abbüßung ihrer Haftstrafe und anschließender Arbeit in der Trudarmee wurde Agathas Schwester Elisabeth freigelassen und begab sich zu ihrem ständigen Wohnort. Angesichts der Umstände, dass Johann bei der zwanghaften Trennung von seiner leiblichen Mutter lediglich ein Jahr alt war und Agatha ihn anstatt seiner Mutter erzogen hatte, musste er sich auf die eintretende Änderung in seinem Leben vorerst umstellen. "Das ist meine erste Mama und das ist meine zweite Mama", klärte er die Leute über Agatha und Elisabeth auf.
Elisabeth heiratete alsbald einen Mann und verließ die Siedlung mit Johann. Schweren Herzens ließ Agatha den Jungen, den sie seit den ersten Jahren seines Lebens in ihr Herz geschlossen hatte, mit seiner leiblichen Mutter gehen.
Auch Agatha hatte - ohne Lebensanzeichen von Abram erhalten zu haben - den Gedanken hinsichtlich einer Heirat zugelassen, zumal sie als alleinige Versorgerin der Kinder eine schwere Last zu tragen hatte. Dabei blieb es allerdings. Denn eine Beziehung zu einem anderen Mann als Abram hatte sie zu keiner Zeit ernsthaft in Erwägung gezogen. Mit Abram ist sie in ihrer Jugend ihre erste Beziehung eingegangen und solange noch Hoffnung bestand, dass er am Leben war, wartete sie nach wie vor treu auf seine Rückkehr.