Teil 3

Kolyma

Zur Abbüßung seiner zehnjährigen Haftstrafe wurde Abram nach Kolyma, einem Gebiet im Nordosten Sibiriens, das aufgrund seiner arktischen Kälte lange Zeit unbewohnbar und nicht erschlossen geblieben war, beordert. Denn auf kurze und hitzige Sommerwochen folgten lange und extrem kalte Wintermonate mit Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt und Schneestürmen mit enorm hohen Windgeschwindigkeiten.

Erst am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, nach der Entdeckung großer Goldvorkommnisse, die für die Industrialisierung des Landes benötigt wurden, erweckte Kolyma Interesse bei der Regierung. Angesichts dessen, dass die Anwerbung von freiwilligen Arbeitskräften zur Förderung von Gold und weiteren Bodenschätzen ebenso wie zum Aufbau der dazu notwendigen Infrastruktur wegen vorherrschenden Wetterbedingungen mit großen Schwierigkeiten verbunden war, wurde zu diesem Zweck auf Sträflinge zurückgegriffen.

Anfang dreißiger Jahre wurden die ersten Häftlinge nach Kolyma transportiert, die unter menschenunwürdigen Bedingungen vorerst Goldminen zum Zweck der Goldförderung, Wohnungen für das Personal und Baracken für die Gefangenen gebaut hatten. Keiner von ihnen überlebte den ersten Winter. In der Folgezeit wurden Tausende der Verurteilten zur Förderung der Bodenschätze und Errichtung der Infrastruktur nach Kolyma deportiert.

Kolyma
Kolyma

Im Jahre 1938 wurden erneut Verurteilte einschließend Abram nach Kolyma befördert. Vorerst wurden sie mit dem Zug bis zu der Endstation der Bahnlinie in Wladiwostok gebracht. Die Zugfahrt erfolgte unter unerträglichen Bedingungen. Die Häftlinge waren gezwungen in überfüllten Wagons dicht aneinander gepresst zu stehen, ohne eine hinreichende Versorgung zu erhalten. Viele von ihnen überlebten die Fahrt nicht. "Als wir die Wagons verließen, fielen die Toten, die unter den Lebenden standen, direkt auf den Boden", berichtete Abram.

Da Kolyma durch keine Straße oder Eisenbahnlinie angeschlossen war, wurden die Insassen im Anschluss an die Zugfahrt mit einem Schiff, das aufgrund der dicken Eisschichten auf dem Meer lediglich in den wenigen warmen Monaten zum Einsatz kam, unter vergleichbar leidvollen Bedingungen nach Magadan, derzeitige Hafenstadt in Kolyma, die vorerst als Zwangsarbeitslager für Häftlinge entstand und im Verlauf der Zeit zu einer Stadt ausgebaut wurde, transportiert. "Wir standen wie Salzfische in einem Fass", beschrieb Abram die Schifffahrt.

Nach seiner Ankunft im Gebiet Kolyma wurde Abram in dem Lagersystem von "Dalstroj", das aus zahlreichen Besserungsarbeitslagern bestand, untergebracht. Das Imperium Dalstroj wurde im November 1931 - zum Zweck der Abbau von Gold, Zink, Wolfraum ebenso wie zur Errichtung von Infrastruktur - gegründet und unmittelbar der Parteiführung unterstellt. Zum Hauptsitz von Dalstroj wurde die Siedlung Magadan, die erst im Jahr 1939 die Stadtrechte erhielt. Im Jahre 1938 nannte sich Dalstroj die Verwaltung der nordöstlichen Besserungslager, die dem NKWD zugeordnet und vorwiegend von den NKWD-Leuten besetzt wurde.

Die Zwangsarbeiter auf Kolyma wurden neben der Förderung von Bodenschätzen ebenso zum Industrie-, Städte- und Straßenbau eingesetzt. Die Neuankömmlinge wurden unter anderem in Abhängigkeit von ihrer physischen Verfassung nach dem Schwierigkeitsgrad in diverse Arbeitskategorien eingeteilt. Abram, ein relativ junger und kraftvoller Mann, wurde als Arbeitskraft in der Goldförderung eingesetzt und arbeitete in der Folgezeit in einer Goldmine unter Tage; das war eine extrem harte Arbeit, der kein Arbeiter allzu lange nachgehen konnte.

Nach Abrams Unterbringung in einer Baracke mit zahlreichen Pritschen für die Insassen, wurde er am Morgen seines ersten Arbeitstages gemeinsam mit anderen Gefangenen von Konvoi zusammengetrieben und zum Einsatzarbeitsort in der Goldmine begleitet. "Ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts wird als Fluchtversuch gewertet, der Konvoi ist angewiesen ohne Vorwarnung zu schießen", zitierte Abram den Spruch, den das Begleitpersonal den Männern - bevor sie zur Arbeit in den Goldminen aufbrachen - wiederholt zugerufen hatte.

In den Goldminen waren die Häftlinge gezwungen unter strenger Aufsicht der Wachposten bis zur zwölf Stunden - wobei die Posten die Befugnis hatten, den Arbeitstag der Gefangenen bis zur sechzehn Stunden zu verlängern - unter dem vollen Einsatz ihrer körperlichen Kräfte zu arbeiten, um die dicken eisigen Bodenschichten zu durchbrechen, unter denen das Gold abgelagert war. Selbst bei hohen Minustemperaturen, die im Winter zuweilen 50 Grad unter Null erreichten, wurden sie nicht von der Arbeit freigestellt.

Für ihre Arbeitsleistung war lediglich eine Tagesration von 600 bis 800 Gramm Brot vorgesehen. Soweit die Zwangsarbeiter die Tagesnorm nicht erfüllt hatten, wurde ihnen ihre ohnehin kaum zum Überleben reichende Tagesration an Brot verringert.

Solche Arbeits- und Lebensbedingungen in Kolyma führten zu einer relativ hohen Todesrate unter den Häftlingen. Sie starben unter anderem an Erschöpfung, Hunger, Kälte und diversen Krankheiten ebenso wie an harten Strafen der Aufseher. "Man legte sich abends hin und wusste nicht, ob man morgens aufstehen wird", brachte Abram seine Gedanken zum Ausdruck.

Nach nicht allzu langer Arbeitszeit in der Goldmine wurde Abram ebenso stark abgemagert, kraftlos und krank in eine Krankenstation eingeliefert. Obgleich die medizinischen Mitarbeiter ihm keine Überlebenschancen zugeschrieben hatten, wurde sein Leben aufgrund eines günstigen Ereignisses gerettet. Er erholte sich allmählich und wurde schließlich aus der Krankenstation entlassen.

In der Folgezeit wurde er nach Maßgabe seiner Kräfte zur Erledigung diverser Arbeiten eingeteilt. Sein Arbeitseinsatz in der zehnjährigen Gefangenschaft reichte von der Goldförderung in den Goldminen über die Arbeit in der Küche zum Zweck der Holz- und Wasserversorgung der Kantine bis hin zur Reparaturarbeit in der Fahrerstation, die er aufgrund eines glücklichen Zufalls und seines gescheiten Einfalls erhielt.

Abram passte sich im Verlauf der Zeit bestmöglich an die Arbeits- und Lebensbedingungen in Kolyma an und ergriff stets die Chancen, um sein Leben in der Gefangenschaft zu erleichtern. In jeder Situation trat Abram, ein offener und kommunikativer Mann, in Kontakt zu seinem sozialen Umfeld und verstand in der Folgezeit, vorteilhafte Beziehungen zu knüpfen. Seine ganze Persönlichkeit half ihm dabei, die Menschen für sich einzunehmen oder günstige Vereinbarungen zu treffen.

So hat Abram die zehnjährige Haftstrafe unter anderem aufgrund seiner Anpassung an die situative und soziale Umgebung ebenso wie dank glücklicher Zufälle überstanden und konnte sich zu den wenigen Überlebenden zählen. Nach seiner Rückkehr erzählte er viel über Kolyma einschließend der Vorfälle, aufgrund derer es ihm gelungen war, inmitten der zehnjährigen Haftstrafe zu überleben.

Nach Abbüßung seiner zehnjährigen Haftstrafe im September 1948 folgte die siebenjährige Verbannung in das Dorf Sussuman, das im Jahre 1936 im Gebiet Kolyma errichtet und ab dem Jahr 1938 weiter ausgebaut wurde. Selbst wenn Abram an seinen neuen Wohnort gebunden war und seiner Bewegungsfreiheit Grenzen gesetzt wurden, konnte er in der Verbannung im Vergleich zu den vergangenen zehn Jahren ein weitestgehend freies Leben führen.

Abram erhielt eine bescheidene Unterkunft mit einer Adresse und wurde als Fahrer eines Lastkraftwagens im Kraftverkehrsbetrieb der Westlichen Bergbauverwaltung Dalstroj gegen Entlohnung beschäftigt.

Die Fahrertätigkeit auf den Straßen in Kolyma war kein leichtes Unterfangen. Die veralteten und voll beladenen LKWs ließen sich schwer bedienen. Im Winter waren die langen Fahrten recht anstrengend. Die hügelige Landschaft und die vereisten Straßen erforderten höchste Konzentration. Und soweit die LKWs auf der Fahrstrecke liegen geblieben waren, wurden die Fahrer nicht nur einer eisigen Kälte ausgesetzt, sondern auch der Gefahr von kriminellen Banden überfallen zu werden.

In seiner Freizeit nahm Abram sogleich Kontakt zu seiner sozialen Umgebung auf und schloss gute Freundschaften. Unter den Verbannten befanden sich ebenso deutsche Männer mit den Namen Derksen, Dick, Neumann und Wiebe. Die Freundschaften mit ihnen blieben auch nach Ablauf ihrer gemeinsamen Zeit in der Verbannung vom Bestand. So verblieb Abram bis zu seinem hohen Alter in freundschaftlicher Beziehung zu den Betroffenen samt ihrer Familien.

Obgleich er von guten Freunden umgeben war, sehnte er sich nach Agatha und nach seinen Familienangehörigen in Chortiza, zu denen er lediglich Briefkontakt unterhielt. In seiner Erinnerung war Agatha fortan eine schöne junge Frau, von der er vor Jahren zwanghaft getrennt wurde. In seinen Briefen ließ er sie wissen, dass er nach wie vor von seiner jugendlichen Liebe zu ihr erfüllt ist. "Denkt an das Herz, das dich liebt", schrieb er Agatha.

Im Oktober 1955 endete seine siebenjährige Verbannung und er wurde aus dem System Dalstroj entlassen. Nach siebzehn langen Jahren des Aufenthalts im Gebiet Kolyma begab er sich schließlich zu seinem ständigen Wohnort in Chortiza, um gemeinsam mit Agatha die zweite Chance auf ein glückliches Eheleben zu ergreifen.

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