Teil 1

Repressalien

Agatha Ott (Langemann)
Agatha Ott (Langemann)

Im Jahre 1938 lebte in der Siedlung Chortiza im deutschen Rayon in West - Sibirien eine schöne und warmherzige Frau im Alter von dreiundzwanzig Jahren, Agatha Ott (Langemann). Agatha, Tochter von Agatha (geb. Hohe) und Gerhard Langemann, genoss eine vorbildliche Erziehung. Alles, was ihr als Pflicht auferlegt wurde, erfüllte sie mit äußerster Sorgfalt und Präzision. Aufgrund ihrer ausgeprägten Fähigkeit, auf den Seelenzustand der anderen einzugehen, hatte sie einen guten Zugang zu ihren Mitmenschen und hohe soziale Verantwortung.

In ihren jungen Jahren ging sie eine Beziehung zu einem sympathischen jungen Mann ein, der im gleichen Jahr wie sie das Licht der Welt erblickt hatte, Abram Ott. Abram, der Sohn von Agatha (geb. Gossen) und Abram Ott, war ein im hohen Maße kommunikativer und zugänglicher Mensch, mit einer positiven Sicht auf die Welt. Er ging mit Leichtigkeit auf seine Mitmenschen zu und sicherte sich aufgrund seiner einfachen und freundlichen Umgangsformen stets neue Freunde. "Ich bin überall zu Hause", pflegte er zu sagen. Seine Anziehungskraft basierte insbesondere auf der Fähigkeit, Menschen zu unterhalten und mit seinem Humor zum Lachen zu bringen.

Im Jahre 1936 schlossen Agatha und Abram den Bund der Ehe. Die Menschen, die sich zum Anlass der Eheschließung zusammengefunden hatten, sprachen ihnen ihre Glückwünsche anlässlich ihrer Heirat aus und wünschten ihnen ein glückliches Leben. Vorerst hatten Agatha und Abram ungeachtet der bescheidenen Lebensverhältnisse wahrhaft ein glückliches Leben gehabt. "Wir hatten nicht viel, aber wir waren glücklich", erinnerte sich Agatha. Mit der Geburt ihrer Tochter schien das Glück der jungen Eltern vollkommen zu sein.

In einer anderen Zeit hätten sie das glückliche Leben fortführen können. Doch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurde ihr Eheglück aufgrund historischer Ereignisse in der UdSSR und in der Welt überschattet und in Mitleidenschaft gezogen.

Denn die Sowjetunion begann mit der Anwendung der Repressalien gegen ihre eigenen Bürger. Vorerst wurden die Repressivmaßnahmen eingesetzt, um den Widerstand der Bevölkerung gegen die Maßnahmen der Regierung zu bezwingen, und in der Folgezeit vielmehr als Instrument sozialer Steuerung genutzt. Eine große Anzahl von Individuen wurde von den Organen des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD) verfolgt und auf Basis des Art. 58 Strafgesetzbuches (StGB) der RSFSR wegen konterrevolutionärer Tätigkeit verurteilt.

Die Repressionen gegen die deutsche Bevölkerung in Chortiza nahmen im Jahre 1930 ihren Anfang und erreichten im Jahre 1938 ihren Höhepunkt. Vorerst wurden diejenigen Bürger auf die Liste der Verdächtigen gesetzt, die in den Jahren 1929 bis 1930 versucht hatten, nach Amerika zu emigrieren, oder im Briefkontakt zu ihren Verwandten in Amerika standen. Personen mit privilegierten Positionen wurden ebenso als potentielle Täter betrachtet. All die Verhafteten wurden vorwiegend aufgrund der erdachten Beschuldigungen repressiert.

Angesichts dessen wurden Agathas Brüder Jakob und Aron Langemann im Februar 1933 verhaftet und zu Unrecht der konterrevolutionären Aktivitäten im Sinne des Art. 58 StGB der RSFSR beschuldigt. Die Ermittlungsführer konnten allerdings weder ein falsches Geständnis von ihnen erzwingen noch auf andere unzutreffende Beweise oder Zeugenaussagen zurückgreifen, um ein gerichtliches Strafverfahren gegen sie einzuleiten. In der Folge wurde das Verfahren aus Mangel an Tatbestand eines Verbrechens eingestellt.

Im März 1938 griffen die NKWD-Mitarbeiter erneut auf die Brüder Jakob und Aron zurück. Das lag daran, dass inzwischen die Verfahrensgrundsätze hinsichtlich der Beschuldigten nach dem Art. 58 StGB der RSFSR dahingehend modifiziert wurden, dass die Ermittlungsführer mit umfassenden Befugnissen zur Erzwingung von Geständnissen ausgestattet und die Angelegenheiten außergerichtlich in einem administrativen Verfahren geregelt wurden. Daher wurden Jakob im Alter von einunddreißig Jahren und Aron im Alter von dreißig Jahren erneut festgenommen.

Angesichts dessen, dass niemand von den in den letzten Jahren Festgenommenen aus der Haft entlassen worden war, hegte Agatha die schlimmsten Befürchtungen. Inmitten ihrer Sorge um ihre Brüder erfuhr Agatha im Mai 1938 von einer weiteren Verhaftung, die sie in einen Zustand der Fassungslosigkeit versetzte. Ihre jüngste Schwester Elisabeth Langemann wurde im Alter von einundzwanzig Jahren ebenfalls festgenommen. Elisabeth war seit dem Beginn der Verhaftungswelle in Chortiza nicht nur die jüngste Person unter all den Inhaftierten, sondern auch die einzige Frau.

Jakob und Aron wurden im Oktober 1938 von einer Trojka (einem außergerichtlichen Ausschuss, bestehend aus drei Personen) des UNKWD zu Unrecht nach den Art. 58.2 (bewaffneter Aufstand oder Ergreifung der zentralen oder örtlichen Gewalt), 58.9 (Beschädigung oder Zerstörung des Staatseigentums), 58.10 (antisowjetische Agitation) und 58.11 (Bildung von antisowjetischen Organisationen) StGB der RSFSR verurteilt und in der Stadt Bijsk erschossen.

Elisabeth wurde im Januar 1939 vom Gebietsgericht Altai zu Unrecht nach dem Art. 58.10 (antisowjetische Agitation) des StGB der RSFSR zu fünf Jahren Freiheitsentzug und der Aberkennung ihrer staatsbürgerlichen Rechte für die folgenden drei Jahre verurteilt.

Agatha erhielt eine verheerende Nachricht nach der anderen. Nicht genug damit, dass die NKWD - Mitarbeiter im März 1938 Agathas Brüder festgenommen hatten, und nicht genug damit, dass im Mai 1938 ihre Schwester, die Mutter eines einjährigen Sohnes, verhaftet worden war, auch Agathas Ehemann Abram - einer von zwei jüngsten Männern in Chortiza, die in die Fänge der NKWD - Mitarbeiter geraten waren - wurde von Repressalien nicht verschont.

Abram Ott
Abram Ott

Abram, ein jovialer Mann voller jugendlicher Lebenskraft, leitete eine Brigade von Traktorfahrern in der kollektiven Wirtschaft "Richtiger Weg" in Chortiza. Eine Stellung, die ihm aufgrund seiner persönlichen Eigenschaften zugetraut wurde. Den Ausführungen des Chefredakteurs der deutschsprachigen Zeitung in Slawgorod, I. Schellenberg,  ist zu entnehmen, dass Abram aufgrund seines Engagements und seiner Kompetenzen, die bei der Organisation und Durchführung der Aussaat nicht unwesentlich waren, als einer der besten Brigadiers galt.

Ungeachtet dessen wurde Abram im Mai 1938 im Alter von dreiundzwanzig Jahren von seiner anstehenden Verhaftung in Kenntnis gesetzt und nach seiner Festnahme in das Gefängnis der Stadt Slawgorod gebracht, in dem er einem Ermittlungsverfahren unterzogen wurde. Um von ihm ein unzutreffendes Geständnis hinsichtlich der konterrevolutionären Aktivitäten im Sinne des Art. 58 StGB der RSFSR zu erlangen, hatten die Untersuchungsführer Abram einem starken psychischen und physischen Druck ausgesetzt. "Abram berichtet, wie unmenschlich die NKWD-Leute mit ihm umgegangen waren", schreibt I. Schellenberg.

Anfänglich widersetzte sich Abram den NKWD-Leuten. Ein Gespräch mit einem alten russischen Inhaftierten regte ihn jedoch zum Nachdenken an. Der alte Mann, der aufgrund seines langen Gefängnisaufenthalts Kenntnis über den Ablauf der Untersuchungshaft politischer Häftlinge vorgab, riet Abram zur Unterzeichnung des unzutreffenden Schuldbekenntnisses. Er berichtete Abram über seinen Erfahrungsstand und gab ihm Aufschluss darüber, dass Abram nur diese Option verbleibt, um sein Leben fortzusetzen. Anderenfalls werde er, wie all die anderen politischen Insassen vor ihm, im Anschluss an die Folter erschossen. Und Abram sei doch noch so jung, so der alte Mann.

Wenn Abram anfangs aufgrund seiner Unschuld mit seiner Freilassung gerechnet hatte, so wurde ihm allmählich bewusst, dass dies nicht zutreffen wird, zumal sein Vater ebenfalls unschuldig verurteilt worden war. Sein Vater Abram Ott wurde im November 1934 im Alter von sechsundvierzig Jahren verhaftet, im Mai 1935 zu Unrecht nach den Art. 58.4 (sämtliche Unterstützung der Weltbourgeoisie), 58.10 (antisowjetische Agitation), 58.11 (Bildung von antisowjetischen Organisationen) und 58.14 (Sabotage) StGB der RSFSR von dem West-Sibirischen Regionalgericht zur zehnjährigen Haftstrafe verurteilt und im Oktober 1937 erschossen.

Im Januar 1938 war Abrams älterer Bruder Jakob Ott an der Reihe. Er wurde im Alter von sechsundzwanzig Jahren verhaftet, im Februar 1938 zu Unrecht nach den Art. 58.2 (bewaffneter Aufstand oder Ergreifung der zentralen oder örtlichen Gewalt), 58.7 (wirtschaftliche Konterrevolution, Schädlingstätigkeit oder Diversion), 58.10 (antisowjetische Agitation), 58.11 (Bildung von antisowjetischen Organisationen) des StGB der RSFSR von der Sonderberatung des NKWD zu der Höchststrafe verurteilt und im April 1938 in der Stadt Slawgorod erschossen.

Dem Urteil, das sein Vater und Bruder erlitten hatten, ebenso wie all diejenigen politischen Häftlinge, die kein Schuldbekenntnis unterschrieben hatten, konnte Abram nur aufgrund der Unterzeichnung des unzutreffenden Schuldbekenntnisses entgehen. Ihm wurde bewusst, dass die Untersuchungsführer nicht eher von ihm ablassen werden, bevor sie nicht das Geständnis von ihm erzielt oder ihn erschossen haben. Letztendlich - dem wohlwollenden Rat des alten Inhaftierten folgend - bewog sich Abram dazu, das Schuldbekenntnis trotz seiner Unschuld zu unterzeichnen.

Im September 1938 wurde Abram von einer Trojka des UNKWD zu Unrecht nach den Art. 58.2 (bewaffneter Aufstand oder Ergreifung der zentralen oder örtlichen Gewalt), 58.7 (wirtschaftliche Konterrevolution, Schädlingstätigkeit oder Diversion), 58.9 (Beschädigung oder Zerstörung des Staatseigentums), 58.10 (antisowjetische Agitation) und 58.11 (Bildung von antisowjetischen Organisationen) StGB der RSFSR zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe ohne Aberkennung der staatsbürgerlichen Rechte verurteilt. "Die Verurteilungen erfolgten ohne Gericht und Ermittlungen", fasste Abram das Vorgehen der NKWD-Organe zusammen.

Mit der auf der falschen Grundlage ergangenen Entscheidung der Trojka des UNKWD wurde Abrams Schicksal für die folgenden Jahre besiegelt. Auf Abram wartete ein Leben in den brutalsten Arbeitslagern in der kältesten von Menschen bewohnten Region der Erde, weit entfernt von der Siedung Chortiza. Ein Leben unter Fremden - ohne seine Ehefrau, ohne seine Familienangehörigen und ohne seine Freunde. Agatha dagegen verblieb in Chortiza und war gezwungen, die schwere Last der Folgezeit, die ihr vom Schicksal auferlegt wurde, vorwiegend allein zu tragen.

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